Diversität – Modeerscheinung oder politische Selbstinszenierung?

Foto: Gerd Altmann (Pixabay.com)

Ein Kommentar von Julia Bachmann

Anmerkung: Die Verfasserin ist als weiße, heterosexuelle cis Deutsche nur in sehr geringem Umfang selbst von Diskriminierung betroffen gewesen und kann daher nicht bzw. kaum aus der Sicht Betroffener schreiben.


Diversität und Vielfalt sind Begriffe, die immer häufiger in den Medien, aber auch der Lebenswirklichkeit vieler Menschen auftauchen – vielleicht auch zu oft und in Kontexten, die einen zweifeln lassen: Die Europäische Union, die sich mit ihrem Grundsatz „In Vielfalt geeint“ die scheinbar gelebte Diversität groß auf die Stirn schreibt, aber Menschen an ihren Außengrenzen sterben lässt, ist wohl das fragwürdigste Beispiel.

Dahingegen wirkt Modelmama Heidi Klum mit ihren Schützlingen bei „Germany’s Next Topmodel“ fast wohlwollend, auch wenn in der so oft als „Diversity-Staffel“ bezeichneten, aktuellen Ausstrahlung genauso fraglich ist, was als Schein und was als Sein angenommen werden kann. Ist der Begriff diversity in den letzten Staffeln bereits zum Schlagwort geworden, wird er in diesem Jahr förmlich gelebt: Unter den Kandidatinnen gab es Models mit Kurven genauso wie kleine, trans Personen, Teilnehmerinnen mit Migrationshintergrund und anfangs sogar eine gehörlose, junge Frau. Ob dahinter tatsächlich eine weltoffene Einstellung steckt oder die Fernsehshow durch gute Selbstdarstellung vor allem Publikum anlocken will, sei dahingestellt.

Deutschland ist divers – doch was meint Diversität, wer gehört dazu und was müssen wir noch tun? Ein Überblick.

Diversität und Vielfalt

Vielfalt meint laut Duden.de eine „Fülle von verschiedenen Arten, Formen (…)“ oder „große Mannigfaltigkeit“. [1] Diversität bezeichnet letztendlich die Vielfalt der Menschen, beispielsweise hinsichtlich Geschlecht, Alter, sexueller Orientierung, Weltanschauung oder Religion, ethnischer Herkunft, Behinderung und weiterer Aspekten.

Als politisches Konzept, wie zum Beispiel im Leitbild der EU, strebt Diversität vor allem Gleichberechtigung und Chancengleichheit aller Menschen an, egal welche Merkmale sie aufweisen oder welchen Gruppen sie sich zugehörig fühlen. [2] Diversität bedeutet, dass niemand bevorzugt oder benachteiligt werden darf, und spricht sich gegen Diskriminierung jeglicher Art aus – auch wenn die praktische Umsetzung Luft nach oben lässt und rassistische und diskriminierende Erfahrungen für betroffene Personen zum Alltag gehören. Besonders Menschen aus marginalisierten Gruppen in Deutschland sind auch 2021 noch im Alltag von Diskriminierung betroffen. Zu diesen zählen beispielsweise Schwarze Personen [3] und People of Color, Menschen mit Behinderungen, Personen, die anderen Religionen als dem Christentum angehören oder auch Menschen, die nicht heterosexuell sind.

Diversität per Grundgesetz

Auch wenn man die Begriffe Vielfalt und Diversität in den vergangenen Jahren vermehrt hörte, ist das Konzept dahinter nichts Neues:

(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt.

(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“

So lautet der Text des dritten Artikels des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland in seiner ursprünglichen Fassung vom 23. Mai 1949. Das Recht auf Gleichheit ist bereits seit 72 Jahren in der deutschen Verfassung verankert. Im März dieses Jahres einigte sich der Bundestag darauf, den Begriff Rasse durch die Wortgruppe aus rassistischen Gründen zu ersetzen [4; 5] ein wichtiger Schritt zur Bekämpfung von Rassismus, da die Vorstellung, es gäbe menschliche Rassen, falsch ist.

Sie wurde vor allem in der Kolonialzeit sowie im Nationalsozialismus als Rechtfertigung dafür genutzt, die eigene Gruppe über eine andere zu stellen und diese dadurch als „minderwertig“ zu kennzeichnen, wie es beispielsweise Jüd:innen im Holocaust traf. Menschliche „Rassen“ sind Konstrukte der Vergangenheit, keine biologische Tatsache, weshalb der Begriff berechtigterweise aus dem Gleichheitsgebot gestrichen wird. [6]

Diversität durch Migration

Mit dem Begriff Migration wird seit 2015 vor allem der starke Anstieg an Migrant:innen in Deutschland assoziiert, der als „Flüchtlingskrise“ im Gedächtnis geblieben ist. Doch Deutschland hat als Migrationsland eine längere Geschichte [7]: In den 1950er Jahren begann die Bundesrepublik, Arbeitskräfte aus anderen Ländern, sogenannte Gastarbeiter:innen, anzuwerben, da durch den Aufschwung der Wirtschaft nach Ende des Zweiten Weltkriegs vermehrt Arbeitskräfte benötigt wurden.

Das erste Abkommen dieser Art schloss Konrad Adenauer mit Italien im Dezember 1955. Es folgten Verträge mit weiteren Ländern, wie beispielsweise Griechenland, der Türkei oder dem ehemaligen Jugoslawien. In den folgenden Jahren holten viele der Arbeitsmigrant:innen ihre Familien in die Bundesrepublik nach, sodass die Zahl an Menschen nicht-deutscher Herkunft weiter stieg. [8]

So gewann Deutschland nicht nur Arbeitskräfte, das Land gewann an Vielfalt. Seit Jahrzehnten wächst die Zahl an Menschen verschiedener Herkünfte, Sprachgemeinschaften, Religionen, Hautfarben, zuletzt auch durch die Zahl der Menschen mit Fluchterfahrungen, die in jüngster Vergangenheit ihre Heimatländer wegen des dort herrschenden Kriegs oder aus anderen Gründen verließen und nach Europa kamen.

Laut einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 29. März 2021 waren zum Jahresende 2020 ,,rund 11,4 Millionen Ausländerinnen und Ausländer im Ausländerzentralregister (AZR) registriert". [9] In Sachsen-Anhalt lebten im Jahr 2019 111.665 Ausländer:innen . Das sind etwas mehr, als der Landkreis Stendal Einwohner:innen hat (Stand 2019: 111.190). [10]

Diversität durch Legalisierungen und Toleranz

Doch nicht allein Zuwanderung hat zur Diversität der Bevölkerung Deutschlands beigetragen. Ein entscheidender Faktor ist zudem, dass Menschen so viele Rechte und Freiheiten haben wie nie zuvor. Die Toleranz gegenüber Personen steigt, die von den lange als „Norm“ angesehenen Merkmalen abweichen. Das heißt im Klartext: Nicht-heterosexuelle Personen, nicht-binäre Menschen oder auch Personen mit einer Behinderung. Diese Art der Vielfalt gab es in unserer Gesellschaft schon lange – heute ist sie aber sichtbar und wird zunehmend toleriert.

Ein wichtiger Meilenstein dabei war die Legalisierung von Homosexualität im Jahr 1994 und die Einführung der Ehe für alle im Jahr 2017, durch die homosexuelle Paare das Recht bekamen, zu heiraten und Kinder zu adoptieren. Durch die generelle, wenn auch zögerliche, Enttabuisierung der Sexualität werden jegliche sexuelle Orientierungen vor dem Gesetz als gleichberechtigt zu Heterosexualität angesehen.

1980 ermöglichte das Transsexuellengesetz (TSG) es, dass Transgender-Personen ihren Namen und Personenstand [11] ändern lassen konnten. Sieben Jahre später entschied das Bundessozialgericht, dass Krankenkassen nach entsprechenden Gutachten die Kosten einer geschlechtsangleichenden Operation übernehmen müssen. Die weitere Überarbeitung des Gesetzes in den vergangenen zwei Jahrzehnten schaffte weitere Erleichterungen und Möglichkeiten für trans Personen. So mussten sich Personen bis 2011 erst der angleichenden Operation unterziehen, bevor sie ihr Geschlecht auf dem Papier ändern durften. [12] Gerade aus trans* Kreisen gibt es aktuell starke Kritik am TSG, das nicht mehr zeitgemäß ist. Die Betroffenen fordern dessen Abschaffung und stattdessen ihr Recht auf Selbstbestimmung. Im Bundestag wurde eine Abschaffung des TSG erst vergangene Woche abgelehnt. [13]

​​​​​​Seit Januar 2019 gibt es offiziell das „dritte Geschlecht“. Neben männlich und weiblich ist es seitdem möglich, den Personenstand divers im Geburtenregister eintragen zu lassen, nachdem es ab 2013 bereits erlaubt war, an dieser Stelle eine Lücke zu lassen, wenn man biologisch weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht angehört.

All die genannten Beschlüsse und Entscheidungen sind Schritte in die richtige Richtung – was aber noch lange nicht bedeutet, dass unsere Gesellschaft sich ausruhen darf. Es gibt immer noch genug zu tun.

Diversität als Ressource und Potential

Im Alltag nehmen wir Diversität meist als etwas Fremdes wahr – Menschen, die nicht so sind wie wir, Menschen, die „anders“ sind. Unsere Wahrnehmung wird dabei oft von Stereotypen und Vorurteilen geprägt, die wir – bewusst oder unbewusst – in uns tragen. Wir sind von Grund auf misstrauisch gegenüber dem uns Unbekannten. Kurz: Unsere Gesellschaft hat Berührungsängste. Das ist per se kein Problem. Ein Problem entsteht erst, wenn wir unser Misstrauen größer als unsere Neugier werden lassen.

Wenn das passiert, sehen wir Diversität als Risiko, schlimmstenfalls als Gefahr, und nicht als Bereicherung. Wir verbieten Menschen, die Person zu sein, die sie wirklich sind, und zwingen sie stattdessen, sich zu verändern. Das kostet diesen Menschen Kraft, die sie stattdessen in andere Bereiche investieren könnten: Ihren Beruf, ihre Familie, in die Gesellschaft, in der sie leben – um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Je vielfältiger unsere Gesellschaft wird und auch sein darf, umso vielfältiger werden unsere Blickwinkel und Betrachtungsweisen. Letztendlich trägt jeder neue Blickwinkel dazu bei, neue Facetten zu erkennen, dazuzulernen und Gegenstände, Konstrukte, Probleme in ihrer Gänze zu begreifen. In einer homogenen Gesellschaft kennt man nur eine Seite der Medaille. In einer diversen Gesellschaft kennt man jede Kante, jeden Kratzer, jede Prägung und glänzende Stelle der gesamten Medaille.

In ihrem Buch „Sprache und Sein“ beschreibt die Autorin Kübra Gümüşay dieses Phänomen in Hinblick auf Sprachen folgendermaßen:

(…) Doch obwohl ich, schon bevor ich in die Vorschule kam, Türkisch lesen und schreiben und Arabisch lesen und rezitieren konnte, interessierte das in der Schule und auch woanders niemanden. Wie es wohl gewesen wäre, wenn Menschen diese Mehrsprachigkeit als das erkannt hätten, was sie ist: ein kostbarer Schatz, eine Bereicherung der Gesellschaft? Was wäre, wenn diese sprachliche und kulturelle Pluralität gefördert, wenn die Fähigkeiten dieser Kinder nicht als Defizite betrachtet worden wären? (…) Was, wenn in der Bilingualität dieser Kinder kein Nachteil, sondern Zukunftspotenzial gesehen worden wäre? [14]

Sie selbst versucht in ihrem Text eine Antwort auf diese Fragen zu finden:

Vielleicht hätte dann niemand die Gründe für ihre Misserfolge in ihrer ethnischen Herkunft gesucht, die sie lernten, als lebenslanges Stigma zu tragen. Vielleicht hätten sie zu einer neuen Art von deutschem Selbstverständnis finden können – eines, das nichtdeutsche Kulturen und Sprachen einzuschließen vermag. Vielleicht hätten sie gespürt: Ich bin wertvoll. [15]

Ziel der Gesellschaft sollte es sein anzufangen, dieses Potential zu erkennen und zu nutzen – nicht nur in sprachlicher, sondern in jeglicher Hinsicht.

Diversität – Modeerscheinung oder politische Selbstinszenierung?

Diversität – ein Begriff, der so vielfältig ist wie seine Bedeutung. Vor allem ist Vielfalt ein Thema, über das vielschichtig informiert werden muss und das nicht in einem einzigen Text in seiner Gänze erfasst werden kann. Wichtig ist, dass es sich dabei um kein neumodisches Phänomen, keinen Trend handelt, der in ein paar Monaten vorbei ist. Und Fakt ist, dass Diversität als Konzept unserer Gesellschaft notwendig ist, um die gesamte Bevölkerung gleichermaßen zu repräsentieren. Doch wir brauchen keine Vielfalt, die als Aushängeschild dient, um Publikum anzulocken, Fortschrittlichkeit vorzutäuschen oder den Schein ganzer Staaten nach außen hin zu wahren, sondern eine Vielfalt, die im Kleinen wie im Großen gelebt wird. Nur dann haben wir eine Chance, rassistische und diskriminierende Strukturen, Handlungen und Verhaltensweisen erfolgreich zu bekämpfen.

Tipp:

Wer sich vertieft damit auseinandersetzen möchte, wie es speziell um die Repräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland bestellt ist, dem sei dieser Beitrag des Deutschlandradios empfohlen: "Migrationsgeschichten in der Politik - Chancen und Hürden der Diversität".


Quellen und Anmerkungen:

[2] Vgl. https://www.netzwerk-stiftungen-bildung.de/wissenscenter/glossar/diversitaet (17.05.201, 17:06 Uhr)

[3] „Schwarz“ wird hier als Eigenbezeichnung dieser Menschen verwendet und daher großgeschrieben.

[5] Das Deutsche Institut für Menschenrechte erklärt hier ausführlicher, weshalb der Begriff Rasse (vor allem im Grundgesetz) problematisch ist: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/themen/rassistische-diskriminierung/begriff-rasse

Auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung findet sich ein sehr guter Text zur Problematik des Begriffs: https://www.bpb.de/lernen/projekte/312945/warum-steht-rasse-im-gg

[6] Interessant dazu ist auch dieser Artikel: https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/213673/rassen-gibt-s-doch-gar-nicht

[7] Migration gab es in Deutschland natürlich auch schon vor den 1950er Jahren.

[8] Vgl. https://www.bpb.de/politik/innenpolitik/demografischer-wandel/196652/einwanderungsland-deutschland (17.05.2021, 18:29 Uhr)

[11] Der Personenstand gibt an, welchem Geschlecht ein Mensch angehört.

[14] Kübra Gümüşay: Sprache und Sein. 2021, Hanser Berlin, 15. Auflage, S. 37.

[15] Kübra Gümüşay: Sprache und Sein. 2021, Hanser Berlin, 15. Auflage, S. 37-38.