Der Hof des KOMM e.V. (Foto: Webseite des Mehrgenerationenhauses)
Nordstemmen - Eine kleine Gemeinde im Landkreise Hildesheim. Auch wenn in den Ortschaften insgesamt nur rund 12.000 Menschen leben, wurde hier vor 20 Jahren ein Mehrgenerationenhaus etabliert.
Die Kamera folgt dem grau gepflasterten Weg, vorbei an einem niedrigen, bunt bemalten Zaun, bis das Bild schließlich vor einer einladenden Hausfront mit angrenzender Konifere zum Stillstand kommt. Vor dem Gebäude versammeln sich Fahrräder unterschiedlicher Größe in liebenswürdigem Chaos auf dem Hof. Leises Atmen aus dem Off-Bereich der Kamera.
Das gleichmäßige Geräusch stammt von Paloma Klages, der 44-jährigen Koordinatorin des Mehrgenerationenhauses. Per Video gibt die schwarz gelockte Niedersächsin coronakonform einen Einblick in ihren Arbeitsplatz. Im anschließenden Gespräch erzählt sie von ihrer Tätigkeit, die viel mehr als ein Nine-to-five-Job für sie ist.
Ein runder Geburtstag
Die Gründung des Mehrgenerationenhauses reicht bis ins Jahr 2001 zurück. Damals besuchten acht Frauen der Gemeinde Nordstemmen einen Workshop und beschlossen daraufhin, einen Nachbarschaftstreffpunkt zu etablieren. Das Begegnungszentrum sollte für jede:n offen stehen, für Familien und Singles, Alt und Jung.
Die Angebote werden seitdem unter anderem durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, den Landkreis Hildesheim und die katholische Kirchgemeinde St. Michael in Nordstemmen gefördert.
Paloma Klages hofft, dass das Jubiläum beim 20. Sommerfest im August gefeiert werden kann:
Das Sommerfest des Mehrgenerationenhauses ist schon immer das zentrale Datum im Jahr, an dem sich die Mitarbeiter:innen und die Ehrenamtlichen zusammen mit den Vereinsmitgliedern und mit der Bevölkerung des Ortes treffen. Für manche Bürger:innen ist dieser Tag ein vorsichtiges Herantasten an Menschen, mit denen sie im Alltag nicht in Kontakt kommen. Bei einer Schwarzwälder-Kirschtorte oder einem Gulascheintopf geht das viel einfacher.
Vielfältige Aktionen
In einem lichten Konferenzraum reihen sich säuberlich platzierte Stühle um einen stattlichen Tisch herum. Ein Whiteboard an der Wand lädt ein, kreativ zu werden.
Klages berichtet mit hörbarem Stolz in der Stimme von einigen Programmpunkten, die im sogenannten „Offenen Treff“ angeboten werden: Von einer Ehe- und Paarberatung, einem Asyl-Treff bis hin zu Deutschkursen unterschiedlicher Niveaustufen. Dabei ist der Verein KOMM e.V., der das Mehrgenerationenhaus etabliert hat, nicht nur auf finanzielle Unterstützung angewiesen, sondern auch auf Wo:manpower.
Dass jede Hilfe gebraucht wird, lässt sich an der Nutzer:innenstatistik ableiten: Im Jahr 2019 nahmen im Durchschnitt 86 Kund:innen pro Tag Angebote des Mehrgenerationenhauses wahr.
Das kann die schlichte Nachfrage sein, welche Briefmarke auf ein bestimmtes Dokument gehört, aber auch größere Anliegen, wie Hilfe beim Antrag auf Erziehungsgeld.
Eine der Nutzerinnen ist die 23-jährige Relana Sädler aus Hemmingen bei Hannover.
Sie erzählt: ,,Ich selber besuche den Upcycling-Nähkurs und habe zeitweise am monatlichen Treffen ‚Plastikfrei‘ teilgenommen, bei dem wir uns über umweltfreundlichere Alternativen des Kunststoffs austauschten. Letzten Sommer durfte ich außerdem ehrenamtlich die sogenannte Wichtelgruppe für einen Zeitraum von zwei Monaten übernehmen und habe dort Kleinkinder betreut.
Teilweise unterstützte ich auch meine Mutter in ihrem Smartphone-Kurs für ältere Menschen. Insgesamt komme ich viel in Berührung mit der Arbeit im Mehrgenerationshaus und schätze es sehr, dass dort Vielfalt gelebt wird. Es bietet Platz für neue Ideen und Projekte, bringt Alt und Jung zusammen und ermöglicht es, unterschiedliche Kulturen kennen zu lernen."
Zurzeit sind viele der Aktionen durch Corona schwer durchzuführen, weswegen Vieles zu kurz kommt, wie Paloma Klages sagt:
Gemeinsamen Grillen, ein Waldtag, das internationale Frauen-Frühstück. Kurz: Etwas Verbindendes mit Menschen, das fehlt.
An den Projekten des Mehrgenerationenhauses beteiligen sich neben den fünf Festangestellten auch Personen aus dem Trägerverein und mehr als 20 Ehrenamtliche. Letztere sind momentan größtenteils im Rahmen der Corona-Hilfe aktiv.
„Wir kaufen für Personen ein, die in Quarantäne ausharren oder für Mütter von Kindern, die nicht in Schule oder Kindergarten gehen dürfen. Außerdem bieten wir einen Impf-Support an: Wir fahren zum Impfzentrum, koordinieren Termine oder helfen beim Ausfüllen von Dokumenten“, erzählt Klages.
Die Landflucht der Jugend
In einer hell ausgeleuchteten Kochstube mit hellbrauner Küchengarnitur sticht besonders die pompöse Kaffeemaschine auf dem Tresen ins Auge. Ob hier Personen aller Generationen zum Kaffeekranz zusammenkommen? Die Gegensätze zwischen Stadt und Land wachsen seit mehreren Jahren kontinuierlich.
Besonders junge Personen verlassen die Provinz, da sie in der Stadt auf ein breiteres Angebot an Bildung, Kultur und Freizeit hoffen.
Laut Hochrechnungen des „Zukunftsinstituts“, dem führenden Ansprechpartner bei Themen wie der Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft, werden 2050 nur noch 16 Prozent der Bevölkerung in Deutschland auf dem Land leben. Zum Vergleich: Heute sind es 25 Prozent.
Dieser Trend gefährdet mittelfristig die Existenz zahlreicher Dörfer.
Klages erklärt, dass das Mehrgenerationenhaus genau dort ansetzen möchte.
Uns geht es darum, das auszugleichen, was es nicht gibt, oder wo Bedarf besteht. Einigen jungen Erwachsenen müssen wir beispielsweise erst erklären, dass es einen Zahnarzt oder einen Copyshop auch im Ort gibt und sie dafür nicht extra nach Hildesheim fahren müssen.
Sie benennt auch ein anderes, wichtiges Ziel des Mehrgenerationenhauses: „Wir wollen junge Menschen auffangen, bevor sie auf die schiefe Bahn geraten. Deshalb arbeiten wir mit dem Jugendzentrum zusammen. Wir fragen gezielt nach Mithilfe junger Menschen, wie etwa bei Auf - und Abbauarbeiten von Events. Die Helfer:innen erleben dabei, dass sie gebraucht werden und somit ein Teil vom Ganzen sind.“
Lernförderung und Homeschooling
In einer heimeligen Kammer steht in deren linken Ecke eine prall gefüllte Spielzeugkiste neben einer winzigen Ausgabe eines Schaukelstuhls. Angrenzend wartet eine Tafel mit zugehöriger Kreide darauf, beschrieben zu werden. Unverkennbar ein Vergnügungsort für Kindergarten- und Schulkinder.
Doch der Offene Treff bietet nicht nur Unterhaltung für die jüngsten Mitglieder der Gesellschaft.
Während eine Lernförderung schon seit mehreren Jahren besteht, wurde kurzfristig ein begleitetes Homeschooling etabliert.
„Dieses Angebot richtet sich vor allem an Kinder, die kein geeignetes Zuhause haben, um dort Online-Schule durchführen zu können. Auch Jugendliche mit körperlichen und psychischen Auffälligkeiten, beispielsweise durch Traumata ihrer Fluchterfahrung, sind herzlich willkommen. Für uns Mitarbeitende stellt das Angebot allerdings einen großen Organisationsaufwand dar. Der ganze Tag muss in 45-Minuten-Abschnitte mit je fünf Minuten Pause unterteilt werden, damit die Räume zwischen den Stunden desinfiziert werden können. Wenn hinzu kommt, dass Lehrer:innen Videokonferenzen zu einer ganz bestimmten Zeit durchführen wollen, gestaltet sich die Planung noch komplizierter.“
Eine ehemalige Hofanlage
Das letzte Video führt durch den Garten: Ein Tisch und zwei Bänke laden in der grünen Oase zum Entspannen ein. Erst bei dieser Einstellung lässt sich erahnen, dass es sich bei dem Gelände um einen ehemaligen Bauernhof handelt.
Insgesamt erstreckt sich das Mehrgenerationenhaus über mehrere Gebäude in der ganzen Gemeinde verteilt, ein großer Teil ist jedoch in eben dieser Hofanlage untergebracht.
Zehn Wohneinheiten hat der ehemalige Bauernhof – in einer davon findet sich der „Offene Treff“, die anderen werden verschieden genutzt.
Paloma Klages erklärt: "Auf dem Hof wohnt ein Deutscher, ansonsten handelt es sich um vom Landkreis angemietete Wohnungen für Menschen verschiedener Herkunftsländer, die teilweise im Asylverfahren sind oder körperliche und geistige Einschränkungen aufweisen."
Das Mehrgenerationenhaus in Nordstemmen ist damit deutlich mehr als ein Wohngebäude, in dem unterschiedliche Generationen zusammenwohnen. Es ist ein alternatives Lebensmodell, Zentrale für Initiativen und Aktionen, Lebensmittelpunkt und Dorfzentrum.
Unser Dorf hat Zukunft!
Zum Abschluss des Gesprächs berichtet Paloma Klages enthusiastisch über den Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“, an dem sich der Landkreis Nordstemmen seit den 60er Jahren beteiligt und für dessen Koordination sie ebenfalls zuständig ist.
Sie spricht schnell, die Wörter sprudeln aus ihrem Mund – dieses Projekt liegt ihr besonders am Herzen.
Mir ist es egal, ob irgendwelche bunt bepflanzten Betonkübel am Ortseingang stehen. Das sagt nämlich nichts darüber aus, ob eine Person das Gefühl besitzt, eine Zukunft in dem Dorf zu haben.
Eine achtköpfige Jury beurteilt die Orte nach Planungskonzepten zur Dorfentwicklung, Infrastruktur und Dorfökologie. Einen großen Stellenwert nimmt dabei auch das soziale und kulturelle Leben ein.
„Bei uns im Landkreis stellen wir den Orten einen detaillierten Feedback-Bogen aus. Diesen können die Dörfer dann verwenden, um sich in Zukunft zu optimieren“, sagt Klages.
2021 muss der Wettbewerb vor allem online abgehalten werden. Dennoch sollte die Dorfgemeinschaft ins Gespräch kommen.
Die Koordinatorin Paloma Klages erläutert: „Es reicht nicht aus, wenn eine Person durch das Dorf marschiert und die Straßen fotografiert. Man muss vielleicht auch mal einen 15-Jährigen fragen, was an dem Ort doof ist. Somit ist der Weg oftmals schon das Ziel.“
Mit diesem Satz beendet Paloma Klages das Gespräch. Er schwirrt noch eine Weile in der Luft herum und verdeutlicht, dass ein Leben auf dem Dorf für jüngere Generationen ungeahnte Möglichkeiten mit sich bringt und Projekte, wie ein Mehrgenerationenhaus, diese optimieren können.
Anmerkung: Eine gekürzte Version dieser Reportage verfasste die Autorin für die Printredaktion von politikorange der Jugendpolitiktage 2021.