Laut Artikel 38 des Grundgesetzes sind die „Abgeordneten des Deutschen Bundestages (…) Vertreter des gesamten Volkes“ [1]. Eine ähnliche Formulierung gibt es auch für den Landtag in der Landesverfassung Sachsen-Anhalts: „Der Landtag ist die gewählte Vertretung des Volkes von Sachsen-Anhalt“, heißt es in Artikel 41. Und:
„Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes.“[2]
Des ganzen Volkes – doch wer ist dieses Volk?
Sachsen-Anhalts Bevölkerung ist – genauso wie Deutschlands Bevölkerung – divers. Menschen unterschiedlicher Geschlechter und Geschlechtsidentitäten, Altersgruppen, Religionen, sexueller Orientierungen, Hautfarben, Sprachen, Herkünfte, sozialer Schichten, Erfahrungshintergründe sowie Menschen mit und ohne Behinderung leben hier zusammen.
Wenn jedoch die Landtagsabgeordneten die Vertreter:innen der Bevölkerung Sachsen-Anhalts sein sollen, müssten sie dann alle Bevölkerungsgruppen repräsentieren? Per Gesetz ist nicht vorgeschrieben, wer zum „Volk“ dazugehört. Sind es alle Menschen, die in Deutschland bzw. in Sachsen-Anhalt leben? Oder nur diejenigen, die eine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen?
Angelehnt an ein Projekt der Süddeutschen Zeitung [3], in dem die Vielfalt des Deutschen Bundestages untersucht wurde, haben wir die Diversität des aktuellen Landesparlamentes von Sachsen-Anhalt unter die Lupe genommen. Als Grundlage dafür dienten die Daten, die sich zu den einzelnen Abgeordneten auf der Webseite des Landtags finden lassen.
Ist unsere politische Vertretung tatsächlich spiegelbildlich repräsentativ für unsere Bevölkerung?
Nein. Doch so sieht es in den meisten Parlamenten aus.
Im Landtag der 7. Wahlperiode sitzen 87 Abgeordnete. Davon sind lediglich 19 Frauen. Männer haben hier die deutliche Mehrheit – nämlich 78,2 Prozent. Keine:r der Abgeordneten identifiziert sich mit dem dritten Geschlecht, zumindest werden sie auf der Webseite des Landtages im Punkt „Abgeordnete“ als „diese Frauen und Männer“ [4] bezeichnet. In Hinsicht Frauenanteil liegt Sachsen-Anhalt im Vergleich der Bundesländer damit auf dem letzten Platz. [5]
Zu Personen, die sich im Bundesland dem dritten Geschlecht zugehörig fühlen, lassen sich keine Daten finden, weshalb in diesem Punkt kein Vergleich stattfinden kann. Gleiches gilt für trans Personen. Dahingegen lassen sich die Zahlen von Männern und Frauen gut gegenüberstellen.
Sachsen-Anhalt hat insgesamt 2,19 Millionen Einwohner:innen [6, 7]. Rund 1,11 Millionen (und damit etwas mehr als die Hälfte) sind Frauen, dagegen nur 1,08 Millionen Männer. Wäre unser Landtag repräsentativ, müssten von 87 Abgeordneten 44 weiblich sein.
Unterrepräsentiert sind in der Volksvertretung aber nicht nur Frauen.
In Sachsen-Anhalt leben rund 123.600 Personen [8], die zwischen 18 und 25 Jahren alt sind. Das entspricht in etwa der Hälfte der Bevölkerungszahl von Magdeburg [9]. Im aktuellen Landtag gibt es keine Person aus dieser Altersgruppe. Der jüngste Abgeordnete ist 29 Jahre alt [10], die jüngste Abgeordnete dagegen 33. Um die Jüngeren unserer Bevölkerung zu repräsentieren, müssten fünf Sitze im Landtag mit Personen zwischen 18 und 25 Jahren belegt sein.
Doch nicht nur diese Altersgruppe hätte im Landtag mehr Sitze verdient: Die über 60-Jährigen machen ca. 35 Prozent der Bevölkerung unseres Bundeslandes aus [11]. Im Landtag liegt deren Anteil aktuell nur bei etwa 24 Prozent. Das heißt im Klartext: Statt 21 Abgeordneten müssten 30 im Landtag sitzen, die 60 Jahre alt oder älter sind.
Der Altersdurchschnitt der politischen Vertreter:innen liegt bei rund 53 Jahren [12]. Dabei ist der Durchschnittswert der CDU mit 58 Jahren am höchsten, bei der AfD mit 47 Jahren am niedrigsten.
In einem repräsentativen Landtag läge der Altersdurchschnitt hingegen bei 48 Jahren, wie der der Bevölkerung [13].
Wie sieht's aus mit dem Glauben?
Rund ein Viertel der Abgeordneten gehören dem evangelischen Glauben an, ein Achtel dem katholischen. Damit sind rund 40 Prozent der politischen Vertreter:innen religiös. Andere Religionen als das Christentum sind im Landtag nicht vertreten.
Die Realität sieht anders aus: Nur 20 Prozent der Bevölkerung Sachsen-Anhalts sind religiös. Statt 34 Sitze im Landtag sollten demnach nur 14 mit Personen besetzt sein, die einer Religion angehören: Davon wären 3 statt 11 katholisch, 10 statt 23 evangelisch und eine:r muslimischen Glaubens.
Ein weiteres deutliches Missverhältnis herrscht hinsichtlich des beruflichen Bildungsabschlusses.
Im aktuellen Landtag haben 27 Personen eine abgeschlossene Berufsausbildung oder einen Fachschulabschluss, 51 Abgeordnete ein abgeschlossenes Studium (Bachelor, Master, Diplom, Staatsexamen) und sieben Abgeordnete einen Doktor- oder Professortitel. Nur zwei Personen haben noch keinen berufsqualifizierenden Abschluss.
Repräsentativ für die Bevölkerung wäre folgendes: 61 Abgeordnete mit Berufsausbildung oder Fachschulabschluss, zehn mit abgeschlossenem Studium, eine:r mit Promotion und 15 ohne berufsqualifizierenden Abschluss. Fakt ist: Im aktuellen Landtag sind Akademiker:innen deutlich überrepräsentiert [14].
Im Landtag der 7. Wahlperiode gibt es einen Abgeordneten, der nicht in Deutschland geboren wurde.
Hans-Thomas Tillschneider (AfD) kam als Rumäniendeutscher in Timișoara, im westlichen Rumänien zur Welt. Er bezeichnet sich selbst als „Angehöriger der volksdeutschen Minderheit“ [15]. Weitere Hinweise auf Migrationshintergründe der Abgeordneten ließen sich in den Daten auf der Webseite nicht finden.
Aktuell leben in Sachsen-Anhalt mehr als 111.600 Ausländer:innen [16]. Das entspricht in etwa der Hälfte der Einwohnerzahl Halles [17]. Die Zahl der Personen mit Migrationshintergrund [18] ist deutlich höher. Laut Statistischem Bundesamt lag diese Zahl im Jahr 2019 für Deutschland bei 26 Prozent [19] der Bevölkerung. Würde man diesen Prozentsatz für Sachsen-Anhalt annehmen, so lebten im Bundesland mehr als 570.600 Personen [20], für die dies zutrifft.
Da die Zahl der Ausländer:innen einen Anteil von 5,1 Prozent an der Bevölkerung ausmacht, stünden ihnen in einem repräsentativen Landtag vier Sitze zu. Jedoch ist es Ausländer:innen nicht möglich, für den Landtag zu kandidieren. Mit der Annahme, dass ein Viertel der Bevölkerung Sachsen-Anhalts einen Migrationshintergrund haben, müssten 23 Abgeordnete der Landesvertretung selbst Migrant:in sein oder mindestens eines ihrer Elternteile.
Dass Ausländer:innen nicht Teil von Land- oder Bundestag werden oder auch bloß wählen können, stellt insofern ein Problem dar, dass sie nicht an der Politik des Landes, in dem sie leben, mitwirken dürfen. Dabei stellen sie inzwischen einen erheblichen Teil der Bevölkerung dar – in Sachsen-Anhalt ist die Zahl der Ausländer:innen vergleichbar mit der der 18-25-Jährigen. Die Politik wird sozusagen „über ihre Köpfe hinweg gemacht“ statt mit ihnen.
Die Frage ist letztendlich: Wie wichtig ist spiegelbildliche Repräsentation?
Müssen wirklich alle Minderheiten repräsentiert sein und in wie viele Teile splittet man die Bevölkerung auf? Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Jane Mansbridge fragt in einem Aufsatz, ob auch Linkshänder:innen repräsentiert werden müssen und kommt in ihrem Aufsatz zu dem Schluss:
„Die Perspektiven und Interessen von Linkshändern sollten repräsentiert sein, wenn sie für eine Entscheidung von Belang sind.“ [21]
Im Projekt der Süddeutschen Zeitung "Volk und Vertreter" zur Repräsentation der Bevölkerung Deutschlands im Bundestag heißt es weiterhin: Weil unmöglich alle Minderheiten vertreten sein können, gibt es das Konzept der substantiellen Repräsentation, wonach nicht die Bürger selbst, sondern vor allem deren Interessen vertreten sein sollen. Die Logik: Nicht nur Frauen können sich für Frauen einsetzen, nicht nur Ostdeutsche denken an die Bedürfnisse der Menschen von Thüringen bis Vorpommern. Hinzu kommt, dass die Entscheidungen in modernen politischen Systemen in der Regel entlang der Parteilinien fallen. "Im Plenarsaal bleibt wenig Spielraum für individuelle Bewusstseinslagen, sodass es für das Abstimmungsverhalten kaum einen Unterschied macht, welchen Hintergrund eine Person hat", sagt Best. Eine empirische Studie [22] über zwölf europäische Länder zeigt, dass die Präferenzen von Frauen generell schlechter vertreten werden als die von Männern, unabhängig davon, wie viele Frauen im Parlament sitzen.“ [23]
Wichtig wäre für die Wähler:innen jedoch der symbolische Wert: Sie wollen sich selbst in ihrer Vertretung wiederfinden. [24]
Quellen und Anmerkungen
[1] https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_38.html#:~:text=Grundgesetz%20f%C3%BCr%20die%20Bundesrepublik%20Deutschland%20Art%2038%201,eintritt.%203%20%283%29%20Das%20N%C3%A4here%20bestimmt%20ein%20Bundesgesetz. (18.05.2021, 9:00 Uhr)
[2] https://www.landtag.sachsen-anhalt.de/fileadmin/Downloads/Rechtsgrundlagen/2020_Landesverfassung_LV.pdf (18.05.2021, 9:02 Uhr)
[3] https://projekte.sueddeutsche.de/artikel/politik/bundestag-diese-abgeordneten-fehlen-e291979/
[4] https://www.landtag.sachsen-anhalt.de/landtag (18.05.2021, 10:58 Uhr)
[5] https://de.statista.com/infografik/15951/frauenanteil-in-deutschen-landesparlamenten/ (25.05.2021, 8:28 Uhr)
[6] https://statistik.sachsen-anhalt.de/themen/bevoelkerung-erwerbstaetigenrechnung-mikrozensus-freiwillige-haushaltserhebungen/bevoelkerung/bevoelkerungsstand/ (18.05.2021, 10:58 Uhr)
[7] Genaue Zahl (Stand 31.12.2019): 2.194.782; Stand November 2020: 2.183.000 Personen. Da die übrigen Daten jedoch aus dem Jahr 2019 stammen, wird für die Berechnungen die Bevölkerungszahl von 2019 zugrunde gelegt. Quelle Stand Nov. 2020: https://www.statistikportal.de/de/sachsen-anhalt/bevoelkerung
[8] Exakt: 123.626 Personen, Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1096091/umfrage/bevoelkerung-in-sachsen-anhalt-nach-altersgruppen/
[9] Magdeburg: 237.565 (https://de.wikipedia.org/wiki/Magdeburg )
[10] Wobei man hier anmerken muss, dass dieser zur Zeit der Wahl 24 Jahre alt war und in diese Personengruppe hineinfällt.
[11] Exakt: 768.428 Personen, Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1096091/umfrage/bevoelkerung-in-sachsen-anhalt-nach-altersgruppen/
[12] Exakt: 52,65 Jahre
[13] Exakt: 47,9 Jahre, Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1094225/umfrage/durchschnittsalter-der-bevoelkerung-in-sachsen-anhalt/#:~:text=Im%20Jahr%202019%20betrug%20das%20Durchschnittsalter%20der%20Bev%C3%B6lkerung,Jahren%20im%20Durchschnitt%20stets%20%C3%A4lter%20als%20die%20M%C3%A4nner
[14] Hier liegen folgende Zahlen zugrunde: https://www-genesis.destatis.de/genesis/online?operation=previous&levelindex=1&step=1&titel=Ergebnis&levelid=1621252568489&acceptscookies=false#abreadcrumb
[16] Exakt: 111.665, Quelle: https://statistik.sachsen-anhalt.de/themen/bevoelkerung-erwerbstaetigenrechnung-mikrozensus-freiwillige-haushaltserhebungen/bevoelkerung/bevoelkerungsstand/
[17] https://de.wikipedia.org/wiki/Halle_(Saale) (25.05.2021, 8:54 Uhr)
[18] Eine Person hat nach der hier verwendeten Definition einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde. / https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/07/PD20_279_12511.html
[19] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/07/PD20_279_12511.html
[20] Exakt: 570.643 (26% von 2.194.782 Einwohner:innen) – Es handelt sich hierbei nur um eine Annahme.
[21] „the perspectives and interests of left-handers should be represented in deliberation when their perspectives are relevant to a decision“ S. 635 / https://wappp.hks.harvard.edu/files/wappp/files/should_blacks_represent_blacks_and_women_represent_women_a_contingent_yes1.pdf
[23] https://projekte.sueddeutsche.de/artikel/politik/bundestag-diese-abgeordneten-fehlen-e291979/
[24]Weitere Infos dazu gibt es beim Projekt der SZ: https://projekte.sueddeutsche.de/artikel/politik/bundestag-diese-abgeordneten-fehlen-e291979/